„Hallo?“. „Haaalloooo?“. „Hallooohooo?“. Eine helle Stimme hallt durch die finstere Nacht. Es ist stockdunkel im Wald. Alles schläft. Nur die Stimme nicht. Eindringlich und immer wieder rufend ertönt sie dumpf aus weiter Ferne. „Hallo? Troll? Bist du da? Bist du wach? Nun werd‘ doch endlich wach! Ich will mit dir reden!“ Die Stimme kommt näher und wird penetrant lauter. Immer dichter kommt sie, bis sie unmittelbar vor ihm steht und grell in seine müden Ohren brüllt: „Nun wach endlich auf, ich will mit dir reden hab ich gesagt!“
Der kleine Troll dreht sich auf seinem unbequemen Lager um und welzt sich unruhig hin und her. Er möchte doch so gern einfach nur schlafen. Er möchte abschalten von allem, was um ihn herum an ihn heran getragen wird. Er möchte so ganz ohne Gedanken und Sorgen und auch ohne Zweifel und Ängste die Erholung der Nacht auf sich wirken lassen. Er möchte dabei nichts hören und nichts sehen. Er möchte einfach nur im Lummerland weilen und die Wärme der Nacht in sich aufnehmen. Und träumen. Er möchte träumen. Diesen einen Traum, den er schon so oft, sein ganzes Leben lang, geträumt hat. Diesen Traum, der so unsagbar schön ist, der jedoch einfach nicht wahr werden möchte. Doch wenn er schon am Tage nicht wahr wird, dann möchte er ihn wenigstens Nacht für Nacht, in seinen kühnsten Träumen, erleben. Möchte all das, was die Wirklichkeit ihm verwehrt, jetzt in seiner nächtlichen und grenzenlosen Fantasie tun. Der kleine Troll möchte Abenteuer erleben, möchte mit anderen ums Lagefeuer tanzen und seine Liebe und sein Leben leben. Jetzt, mitten in der Nacht, wo ihn keiner stört. Wo alle Wirklichkeit vor der Dunkelheit der Nacht schwindet und Fantasie und Illusion ihre Magie und Macht entfalten. Jetzt möchte er in seinem Traum leben.
Er hatte es sich auf seinem engen Lager aus Moos und Blättern gemütlich gemacht. So gemütlich, wie es eben geht in seiner kleinen, dunklen und bescheidenen Höhle. Dumpf nimmt er nun im Halbschlaf das Rufen der Stimme aus der Ferne wahr. Es ist doch noch mitten in der Nacht und er sollte weit weg im seinem Traumland sein. Doch seine Ohren kann er nicht verschließen. Sie sind ein Organ, was sich nicht auf Befehl abschalten lässt. Auf ein mal ist er wach und vernimmt das aufdringliche Rufen der Stimme. ‚Bitte nicht, lass mich doch einfach mal schlafen!‘, denkt er, während sich die Stimme immer lauter in seine Gedanken schleicht. Er schafft es nicht seine Augen zu öffnen. Sie sind fest verschlossen und auch mit größter Mühe, kann er sie nicht öffnen. Zu schwer sind seine Lider.
In seiner kleinen Höhle ist es stockdunkel. Und bid auf die immer wiederkehrende Stimme ist es still. Mucksmäuschen still. Durch seine geschlossenen Augen kann er die Dunkelheit sehen. Er dreht sich wieder um, in der leeren Hoffnung, die Stimme könnte aufgrund seines Schweigens ermüden. Er schmeißt sich in die moosigen Kissen und sucht nach einer neuen Schlafposition, die ihn wieder ins Land seiner Träume zurück bringt. Vergebens. Er befindet sich in dieser Sphäre zwischen Schlafen und Wachen. Seine Ohren registrieren jetzt jedes noch so kleine Geräusch. Jedes Rascheln in den Bäumen, jeder zugige Windhauch und jede Bewegung um ihn herum hindern ihn, zurück in seine Träume zu finden. „Hallo Troll. Bist du nun endlich wach?“, ertönt wieder diese Stimme.
Unruhig schmeißt er sich nun hin und her. Er will zurück verdammt nochmal. Zurück in seinen Traum. Zurück dahin, wo es warm und gemütlich ist. Wo er geborgen ist und alle Last von ihm gewichen scheint. „Lass mich in ruhe! Ich will schlafen!“ raunzt der Troll genervt und müde durch die Nacht. Dabei ist er im Halbschlaf nicht sicher, mit wem er da gerade spricht. Wieder dreht er sich um. Auf der Suche nach einer neuen Schlafposition merkt er jedoch, dass an Schlaf nicht mehr zu denken ist. Die Stimme hat es geschafft und ihn geweckt. Wie so oft in den Nächten.
„Was willst du denn schon wieder von mir? Ich habe dir doch nichts getan. Warum kommst du Nacht für Nacht zur mir und weckst mich? Immer dann, wenn ich für ein paar Stunden allem entfliehen will.“ „Du sollst nicht fliehen. Du sollst dich der Wahrheit stellen. Wenn du immerzu nur in deine Träume fliehst, wirst du nie wirklich leben können. Troll, sieh dich doch um. Du bist allein und schweigt. Doch mit irgendwem musst du reden. Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen und dich hinter deinen Träumen verstecken. Die verborgene Wahrheit wird dadurch nicht verschwinden. Du schiebst alles nur auf.“ „Lieber schiebe ich es auf und habe wenigstens nachts meine Ruhe!“, murmelt der kleine Troll und wirft sich beleidigt erneut in sein Kissen. „Um dich morgen früh wieder selbst zu belügen? Nur weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst?“, fragt die Stimme herausfordernd. „Die Wahrheit. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was die Wahrheit ist.“ Der kleine Troll ist nun vollkommen wach und obendrein furchtbar wütend.
Im Dunkeln liegt er nun auf auf seinem Lager und blickt in die unendliche Finsternis. Ob die Stimme recht hat? Er muss sich mit den Tatsachen abgeben, das stimmt schon. Natürlich muss er das, das weiß er doch. Er ist schließ nicht blöd. Oder vielleicht doch? Denn er weiß einfach nicht, wie man das anstellt. Er weiß nicht, wie er diese Bilder aus seinem Kopf bekommt. Und er weiß auch nicht, ob er einige dieser Bilder überhaupt aus seinen Erinnerungen und Träumen wirklich löschen möchte. Einerseits tut ihm gut, was er vor seinem Inneren Auge sieht. Seine erträumte Fantasie, die rosigen Tage voll brühendem Glanz, erhalten ihn am Leben und geben ihm Kraft für den nächsten Tag. Andererseits schleichen sich permanent diese lästigen Dämonen sus Vergangenheit und Gegenwart mit ein, die all die schönen Bilder seiner Fantasie trüben und ihnen einen faden Beigeschmack verleihen, der ihm nicht selten wie ein Blitz mitten in sein Herz trifft.
Der kleine Troll liegt mal wieder verzweifelt in der Dunkelheit und weiß einfach nicht, was er tun soll. Nacht für Nacht spricht die Stimme zu ihm. Sie ermahnt ihn, sie fordert ihn auf. Sie appelliert an ihn. Und doch findet er einfach keine Lösung für das, was in ihm vorgeht. Das, was seine Sinne trübt und ihm dem Verstand raubt.
Die Stimme ist wieder fort. Wie immer, wenn er erstmal hellwach ist und seine Gedanken ins Rollen gekommen sind. Es ist noch immer dunkel. Stockdunkel. Und durch das verstummen der Stimme auch ganz leise. Endlich ist es wieder still und der kleine Troll nimmt einen neuen Anlauf ins Land seiner Träume.
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