Projizierte Angst
12. August 2021

„Troll! Du musst jetzt wirklich einfach mal deine verdammte Klappe halten. Merkst du denn gar nicht, dass keiner hören will, was du zu sagen hast? Merkst du nicht, wie du den anderen unheimlich auf den Keks gehst mit deiner Meinung und vorallem mit deiner verdammten und viel zu ausführlichen Ehrlichkeit!“, meckert die Stimme mal wieder knallhart.

Der kleine Troll weiß dabei gerade nicht, ob er sich schämen oder ob er mit selbstsicher und erhobener Brust seine Meinung vertreten soll. Er ist vollkommen verunsichert. Sicherlich merkt er, dass da irgendwas dran ist an dem, was die Stimme sagt. Er merkt, dass seine Wahrheit oft nicht der, vieler anderer entspricht und er immer wieder querschlägt mit dem, was er sagt. Doch er kann das einfach nicht verstehen. Er weiß einfach nicht genau, wo sein vermeindlicher Fehler liegt. „Doch Stimme, ich merke, dass ich immer wieder auf’s Neue anecke.“, erwidert er stattdessen leise und mit hängenden Schultern. Sein Blick ist dabei traurig und starr auf den erdigen Boden seiner Behausung gerichtet. „Aber was soll ich denn machen?“, fragt er mehr ins Nichts, als dass er die Stimme direkt anspricht. „Ich spreche doch nur aus, was ich denke, was ich sehe und was ich fühle. Alles das, was da tief in mir drin ist. Ich bin doch einfach nur ehrlich und sage offen, was ich denke und fühle.“ Der kleine Troll klingt verzweifelt. Und das ist er auch. So verzweifelt, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Er versteht die Welt einfach nicht mehr. „Papperlapapp Troll. Keinen interessiert was in dir drin ist! Was da drin ist, das ist allein deins. Das will kein anderer haben! Die anderen haben doch schon ihr Eigenes da drinnen. “

Der kleine Troll sitzt auf seinem Lager und lässt seine Füße müde baumeln. Und genauso wie seine Füße, hängen ihm auch die Schultern herab. Er fühlt sich winzig klein und blickt weiterhin starr und ausdruckslos zu Boden. „Aber, aber was soll ich denn machen?“, fragt er die Stimme leise wimmernd. „Soll ich etwa all das verschweigen, was da in mir ist? All die Gedanken und Gefühle? Die Erlebnisse und Erinnerungen? Die wunderbaren Geschichten und auch die mich heimsuchenden Dämonen?“ Der kleine Troll hat beinahe das Gefühl, ihm würde der Mund verboten. Er versteht einfach nicht, warum ihm niemand zuhören möchte. Warum ihn und sein kleines Leben keiner zu verstehen scheint.

Die Stimme ist plötzlich ruhig. Und das passiert ihr nur selten. Aber sie ist selbst nicht mehr so ganz sicher. Sie weiß nicht so recht, was sie ihm antworten soll. Insgeheim versteht sie den kleinen Troll ja, doch das darf sie ihn natürlich nicht wissen lassen. Sie ist schließlich diejenige, die alles hinterfragt und zu allem, egal was es ist, was zu meckern hat. Sie muss immer gegenan gehen und mit ihrer konträren Meinung den kleinen Troll herausfordern und zum Nachdenken bringen. Aber hier? Was soll sie ihm sagen? Soll der kleine Troll sich selbst verlassen und eine Scheingestallt annehmen nur um nach außen hin wichtig und interessant zu erscheinen? Nein, mit Sicherheit nicht, denn das würde ihm ganz und gar nicht zu Gesicht stehen. Doch mit seiner Art der Ehrlichkeit kommt er auch nicht weiter. „Was soll ich ihm nur sagen? Was ist hier wirklich der richtige Weg?“, überlegt die Stimme für sich, bevor sie etwas zu ihm sagt.

Der kleine Troll hingegen ist einfach nur traurig. Er kann die Welt in der lebt nicht verstehen und fragt sich immer wieder, was wohl falsch an ihm sein mag, dass er so unverstanden und anders ist. Noch immer sitzt er da und starrt ausdruckslos den Boden unter seinen Füßen an. Er denkt an so manche Heldentat, von der die anderen berichten. All die fantastischen Geschichten, von denen sie erzählen. Sind die wirklich alle wahr? Haben sie sich genau so zugetragen? Das fragt er sich nicht zum ersten Mal.

„Jetzt hör doch auf zu grübeln und sei wieder fröhlich.“, versucht die Stimme ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Sie weiß noch immer nicht so genau, was sie sagen soll und unternimmt stattdessen nur einen wagen, wenn auch kläglichen Versuch: „Troll, ich habe nachgedacht. Und du hast sicherlich recht. Du sollst dich nicht verbiegen. Das bringt auf Dauer nichts. Verbiegen kann sich keiner wirklich. Wer das versucht, der belügt sich selbst und dafür bist du viel zu ehrlich. Das ist nichts für dich. Was in uns ist, das gehört da hin und kann und sollte von nichts und niemanden gebrochen werden. Aber du musst lernen zu akzeptieren, dass es wohl nur ganz wenige Wesen auf diesem Planeten gibt, die wirklich selbstbewusst genug sind und ihre eigenen Wunden und Defizite anerkennen und über sie sprechen zu können. Die Kunst ist es, diese richtigen Wesen zu finden und alle anderen einfach weiter ziehen zu lassen. Die Angst vor alten Wunden muss jeder für sich selbst ablegen, doch deine Ehrlichkeit spiegelt ihren eigenen Schmerz und davor fliehen sie und projizieren so ihre eigene Angst in Form von Wut auf dich. Lass sie ziehen und zwinge sie nicht mit deiner Ehrlichkeit sich selbst öffnen zu müssen“

Der kleine Troll hält inne. Seine schlackernden Füße hören auf sich zu bewegen und er hebt zum ersten Mal seit Stunden den Kopf und blickt nicht mehr auf den tristen, schwarzen Waldboden. „Aber das ich erwarte doch gar nicht. Sie müssen sich nicht öffnen. Sie dürfen alle ihre Ängste haben. Aber ich möchte doch einfach nur ich selbst sein und ehrlich sein dürfen.“

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