Zurück in die Vergangenheit.
21. Oktober 2022

„Nun hör verdammt noch mal endlich auf dich selbst zu bemitleiden!“ Mit entnervt rollenden Augen kann die Stimme es nicht mehr hören und wendet sich von ihrem besten Freund ab. Immer ist es dasselbe zerfließende Gejaule. Immer wieder diese öden und längst gelebten Geschichten aus der Vergangenheit. Und jedes Mal aufs Neue sitzt der kleine Troll in seiner Ecke und erwartet Mitleid. Wie ein schmollendes Kind sitzt er da und grübelt und heult vor hin. ‚Die Welt ist so schlecht zu ihm‘, ‚keiner versteht ihn‘, ‚er bedeutet keinem etwas‘. Die Stimme kann ein Lied davon singen. Nur will das keiner mehr hören und genau das versucht sie dem kleinen Troll klar zu machen. „Jetzt hör endlich auf zu flennen und reiß dich mal zusammen. Die Welt dreht sich nicht ausschließlich nur um dich! Du bist nur einer von vielen und alle anderen haben auch ihre Päckchen zu tragen. Also steh jetzt endlich auf, mach dich fertig und weiter geht’s. Aber wasch dir vorher das Gesicht. Du siehst fürchterlich verheult aus!“. Die Stimme verlässt kopfschüttelnd und genervt den Raum und überlässt den kleinen Troll sich selbst.

‚Stimmt es, was die Stimme sagt? Darf ich mir nicht mal mehr selbst leid tun?‘ Der kleine Troll ist verwirrt. Er blickt zurück auf seine persönliche Geschichte und je mehr er ihr auf die Schliche kommt, desto mehr tut ihm dieser kleine Troll, den er aus der Vergangenheit, seiner eigenen Vergangenheit, kennt, leid. Er fragt sich, wie sein jüngeres Ich das alles so klaglos hinnehmen konnte und woher diese frühere Ausgabe seines Selbst die Kraft zum Durchhalten und Überstehen all dieser Demütigungen und Zurückweisungen wohl genommen hat. ‚Der war ganz schön stark der kleine Troll als er jung war. Ein echter Kämpfer.‘ Nur versteht niemand des Trolls persönlichen Kämpfe. Er hat es auch nie als Kampf aussehen lassen. Hat niemanden gesagt, dass er unglücklich ist, unzufrieden mit sich und seiner Situation und er hat immer alles in seinem Umfeld aufrecht erhalten. Keiner kannte seine wahre Gefühlswelt. Er hat sich immer perfekt angepasst, schon in ganz jungen Jahren. Er hat im Laufe seines Daseins gelernt sich anpassen zu müssen. So zu funktionieren, wie es von ihm erwartet wurde. So, wie auch alle anderen funktionierten. Er hat gelernt, jenes zu wollen, was die Außenwelt forderte und er hat sich gebeugt. Er hat sich selbst aufgegeben, nur um ein wenig Anerkennung zu erhaschen und hat schon bald selbst daran geglaubt, dass er eben genau das möchte, was seiner Zeit entsprechend das Richtige zu sein schien.

„Dieses angepasste Leben kotzt mich so an!“, schreit er jetzt lautstark der Stimme hinterher. „Ich will das so alles nicht mehr! Ich hab die Schnauze voll von angepasstem Leben. Ich will endlich mein eigenes Leben leben!“ Der kleine Troll ist wütend. Wütend auf alle, die ihre Erwartungen an ihn richten, wütend auf den gesamten Kosmos und vorallem aber wütend auf sich selbst. Wie konnte er nur so verdammt dämlich sein und sich solange zugunsten seiner Außenwelt beugen und so selbst vergessen? Er senkt ernüchternd und kopfschüttelnd sein Haupt. Schwere Gedanken fahren Achterbahn in seinem Kopf und er bekommt das alles einfach nicht richtig sortiert und in klare Worte, in ordentlichen Linien und Bahnen, gelenkt. Dieses Wissen lastet unendlich auf ihm, weil er weiß, dass es der eigentliche Kampf ist, den er für sich ganz allein auszufechten hat.

„Stimme?“ Nach einer Zeit der Stille hebt der kleine Troll seinen Kopf, blickt in die trübe Dunkelheit seiner Höhle und ruft nach seiner besten Freundin. „Stimme, ich brauche dich jetzt. Mit wem soll ich denn sonst streiten und diskutieren? Keiner kennt mich so gut wie du. Keiner ist je so dicht bei mir gewesen, um zu wissen, zu denken und zu fühlen, was ich weiß, denke und fühle. Komm bitte zurück und hilf mir!“ Er senkt erneut erschöpft den Kopf. Stille.

„Troll, ich weiß, dass du gerade am Kämpfen bist, aber du darfst nicht vergessen, dass es allein dein Kampf ist und alle anderen sind nur die Zaungäste. Sie sind nicht deine Helfershelfer. Es ist vollkommen egal, was du ihnen erzählst, sie haben nun mal keine Lust dich zu bemitleiden. Sie haben alle mit sich selbst zu tun.“ „Das weiß ich doch,“ erwidert der kleine Troll jetzt mit ruhigem Ton „aber sollte es nicht jedem helfen, sich auszutauschen über das, was einem angetan wurde? Was die Außenwelt in uns angerichtet hat? Heißt es nicht, geteiltes Leid, ist halbes Leid? Fühlen wir alle uns denn nicht wenigstens ein kleines bisschen besser mit dem Wissen nicht allein zu sein? Und können wir als Gemeinschaft, wenn wir zusamnenstehen, nicht dieser ganzen Last ein Ende schaffen, indem wir alle endlich offen für ein NEIN einstehen, uns nicht nicht mehr verbiegen lassen und so uns selbst öffnen, um jeder für sich, er selbst sein zu können?“

Die Stimme ist still. Sie denkt nach. Irgendwie hat der kleine Troll ja recht. Es stimmt schon. Hin und wieder hört sie davon, dass es anderen wohl ähnlich ergangen ist, wie dem kleinen Troll. Das auch sie ein fremdes und nicht immer ihr eigenes Leben gelebt haben. Die Muster vieler ähneln sich oft sehr und doch kämpft jeder im Stillen nur für sich und schweigt. Sie kann sich vorstellen, was sich in des Trolls Gedanken an Bildern formieren. Eine geschlossene Front, starke Wesen. Männer und Frauen, die gemeinsam gegen das Leid ihrer Vergangenheit aufstehen und sich selbst in ihrem Sein verwirklichen und so endlich Frieden in sich finden. Der kleine Troll möchte doch nur ehrlich sein, er selbst. Er möchte gesehen werden. Er möchte Anerkennung finden für sein eigenes kleines und unscheinbares Selbst. Als der kleine Troll, der er nunmal ist. Was sind schon all die Auszeichnungen, die Schulterklopfer, die Sprüche seiner Außenwelt wert, wenn sie nicht sein eigenes Inneres, sondern lediglich seiner Hülle, seiner Erscheinung und seiner von der Umwelt aufgezwungen Gedanken und Taten dienen?

„Troll, ich verstehe dich“, räumt die Stimme nun ein. „Wir müssen nur einen Weg finden, der nicht nach Selbstmitleid klingt und andere stattdessen ermutigt. Sie sollen nicht vor dir fliehen, sondern mit dir gemeinsam ihren eigenen Weg beschreiten können.“Der kleine Troll spürt, wie er sich innerlich langsam wieder aufbaut. Wie er Hoffnung schöpft und sein Mut zurück kehrt. Er ist stark. Das weiß er. Wäre es es nicht, wäre er nicht so weit gekommen. Und das er weit gekommen ist, dass zeigt ihm sein Weg, der hinter ihm liegt. „Weißt du Stimme, ich möchte kein Mitleid von irgendwem. Ich bemitleide auch mich selbst nicht. Doch hin und wieder denke ich an kleinen Troll der ich einst war und an all das, was ihm widerfahren ist. Und dieser vergangene kleine Troll, der tut mir oft zu tiefst leid. Er hatte es nicht leicht im Leben. Doch ohne ihn, wäre ich heute wohl nicht so stark und dafür möchte ihm manchmal danken. Dieser starke kleine Kerl lebt in mir und wird immer ein Teil von mir sein. Ich will ihn nicht vergessen. Das hat er nicht verdient, weißt du.“ Die Stimme schluckt. Sie weiß genau, was der kleine Troll meint. „Und deswegen gehe ich manchmal zu ihm hin und verbringe eine Weile mit ihm. Ich möchte für ihn da sein und ihm zeigen, was für einen großartigen Troll er aus mir gemacht hat. Dann lachen und weinen wir zusammen, bevor ich ihn wieder in der Vergangenheit zurück lasse und wieder hier bei dir bin!“, fügt der kleine Troll an die Stimme gerichtet hinzu.

‚Und wenn jeder seinen eigenen kleinen Troll aus der Vergangenheit zu lieben lernt, dann gäbe es sicher weniger Wut.‘ fügt due Stimme in Gedanken hinzu.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.